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Saturday, February 03, 2007
OPEN LETTER TO KARL HEINZ BOHRER
"Falsche Analogien und Gegenüberstellungen, tendenziöser Ästhetizismus und oberflächliches Denken, um dem Schuldgewissen und der Schuldkultur den Garaus zu machen: Karl Heinz Bohrer und seine Polemik 'Pathetisches Sprechen ohne Scham'."
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"Pathetisches Sprechen ohne Scham"
Noch einmal zum Fall Günter Grass: Viele Intellektuelle der Bundesrepublik entstammen nationalsozialistischen Elternhäusern oder waren gläubige Mitglieder von NS-Jugendorganisationen. Nicht diese Herkunft ist das Problem - wohl aber der moralisch-idealistische Jargon, der Herr Bohrer sich aus ihr erklärt "
LINKS HERE
1] Lieber, wahrhaftig und wirklich geehrter Herr Bohrer, Sie werden sich kaum an einen Abend mit meiner Kusine Nite von der Schulenburg und dem Gatten Earl Grey Gowery und mit mir in deren Wohnung in Covent Garden so um 1070 oder 1970 herum erinnern. Sollte Ihr Gedächtnis aber lückenlos sein... alles was sie Seattle zu bieten hat, inklusive unsere weltberühmten Orcas, ist das Ihre.
Ich wende mich an Sie – etwas verspätet - aus Anlaß des oben genannten Artikels, u. a. über Günter Grass. [*1] Den folgenden, in der Zwischenzeit überarbeiteten, verschärften, jetzt öffentlichen Brief - Stellungnahme – der Versuch ins Gespräch zu kommen - aber von Ihnen weder beantwortet (trotz Nachfrage) und wohl nicht zur Kenntnis genommen - veröffentliche ich hier in des freundlichen "Gregor Keuschnigs" [bekannter Name irgendwie, nicht wahr? Eines Liebhabers Pseudonym,] Begleitschreiben MAIN LINK
.
2-a] Wie Sie sehen werden, ist mein Blickpunkt, meine politische Schulung durch andere als allgemeine Erfahrungen, aber besonders von denen von Ihnen beglückwünschten, und Überlegungen gefärbt. Wie Sie sehen werden, in einigem verstehen wir uns schon, aber nicht immer aus den selben Gründen, in anderen scheiden sich die Geister gründlich und radikal.
2-b] Ihr Vergleich von den selbstgerechten Nachkommen aus einer Millionenschar von ehemaligen Nazi-Enthusiasten mit der Wortkargheit der Nachkommen einer minuskulen und im allgemeinen spät geborenen und pathetisch inkompetenten und erfolglosen Verschwörung stimmt nicht und kommt mir als Versuch vor, diejenigen von Hitlers letzten Kindern, die sich ja mit ihrer jugendlichen Revolte wohl auch gegen die eigenen Nazifamilien richteten, nicht nur an den Mief der westdeutschen Gesellschaft, als eigentlich doch, immer noch, inescapably - ob gut oder böse - Nazis abzustempeln.
Pauschale Polemiken wie die Ihre (ich kenne solche auch von Peter Handke) sind zwar herausfordernd und laut, aber leiten dann doch zu Überlegungen an. Das hat Herr Habermas, den Sie ja in anderer Hinsicht tadeln, auch schon vollbracht - statt diesen Kindern, trotz ihren Manieren, deutsche Manieren, ihrer, in den Unis geschulten Gewissenhaftigkeit, endlich historischen Sinn, zu beglückwünschen; denn genau dahin läuft Ihre tendenziöse verdrehende Polemik hinaus.
Die Schlachten, die uns die 68er lieferten sind aber kaum zu vergleichen mit denen der 20er und 30er Jahre. Die SA bestand aus meistens wild patriotischen Arbeitern, zum Teil ehemaligen Soldaten des ersten Weltkriegs. Trotz des Unterschieds an der Mannschaften, die da auf die Strassen gingen, Adorno und Horkheimer zitterten auch wieder. Grob gesagt, die letzten Nachkommen der gläubigen Nazis als nazihaft rechthaberisch auf einer Seite, im Vergleich zu den sich zurückhaltenden Kindern der Widerständler. Mir scheint auch, also würde Ihnen mehr als die Selbstgerechtigkeit von Grass auf die Nerven gehen und Sie degoutieren. Gut so. Sie sind zwar für Ästhetik verantwortlich; aber wenn das Gewissen auch immer halb unwissend ist, was ihm nicht gefällt, wenn es einmal kotzt, wenn auch auf deutsche, ziemlich verschrobene Art, und nur eine Schicht, mit einer Abstammung mit der sie abzurechnen versuchte, eine Abstammung die man sich ja leider nicht aussuchen kann, dann riecht es eben nicht angenehm; bei solchen Sachen aber muß aber dann ruhig den Arm bis zur Schulter in den Kuh Arsch stecken können - ohne die Nase zu rümpfen.
Ihre Polemik ist gespickt mit "Unappetitlichkeiten". Ich kann mir gut vorstellen, welches Ihre Vorlieben als Kleinkind waren! Und dass Sie sich nicht allzu unwohl unter dem Statthalter Adenauer gefühlt haben. Trotzdem habe ich die Sammlungen Ihrer Essays und Rezensionen, die ich dann auch so ziemlich alle las als ich mit der deutschen Nachkriegsliteratur in den 60er Jahren Bekanntschaft machte, eher positiv in Erinnerung.
Sie schreiben: "Wenn also nicht nur ein großer Anteil derjenigen, die gut schreiben und lesen konnten, Nazis wurden, sondern gerade die Mehrheit in den Geisteswissenschaften - darunter nicht nur soziale Streber, sondern vom 'deutschen Geist' Überzeugte -, woher sollte schon nach dem Krieg der Widerruf kommen?" dann frage ich zurück, warum es bis in die späten 60er Jahre dauerte, daß die Verwandtschaft der einst Enthusiastischen sich gegen ihre Herkunft gewendet haben? Ein Grund dafür, daß es die Studentenrevolte überhaupt gab, sie ermöglichte, weltweit, hat doch auch mit dem (deutschen) Wirtschaftswunder zu tun: Studenten / Flaneure hatten plötzlich Zeit. Und sie hatten die Zeit, kritisch denken zu lernen. Und von wem? Die Sozialisten und Kommunisten hatten das immer gekonnt. Aus dem Ghetto der eigenen Klasse auszubrechen dazu gehört, im allgemeinen, einiges.
2-c] Die wahrhaftige Schuld - und wer sich schuldig oder niedergeschmettert fühlen sollte [es werden derer immer weniger aber es ist sicherlich in der Steiermark, im Tirol und Kärnten in Bernstein eingeschlossenes Treibholz dieser Art vorzufinden]-; woraus diese [a] Schuld - die wohl um abgetragen zu werden jedenfalls mit einer gewissen Differenziertheit beurteilt werden muß - woraus diese wirklich besteht ; und die [b] Schuldkultur, die sie - auf sehr typische Art - so satt haben, diese beiden Phänomene stehen ja in nicht in was man ein rationales Verhältnis bezeichnen könnte, ohne daß man historisches Verständnis hineinstreut. Ja wahrlich, die deutsche Schuldkultur, ein neues Weltwunder, bewundert von "Sea to Shining Sea," der [West] Deutsche - ziemlich selbst-gemachte, nicht nur - aber auch sehr! - erpreßt durch den "schlechten Ruf" den H. M. Enzensberger einmal in einem immer noch schönen Gedicht zitierte; Versuch der Wiedergutmachung. Hätte es eine "reconciliation commission" in Südafrika ohne diese westdeutsche Schuldkultur gegeben? Erst wollten die Kerle nicht mal trauern, dann haben sie scheinbar alle Schuld der Welt sich auf die Schultern geladen [auch eine Art ungeheuere Arroganz!], jetzt stöhnen eigene wie Sie. Es hat schon auch seine Komik.
Sie schreiben: "Ja, die Begründung der deutschen Geschichte auf dem Holocaust liest sich wie die perverse Inversion der Tat selbst, ist nur als Frenetismus einer Schuldkultur zu verstehen," und "I could not agree more" [sehe ausführlicher darüber unten]. Aber nicht mit Ihrer These, daß diese Kultur eigentlich Ausgeburt des ewigen Nazitums ist. Den besonders rechthaberischen, oberlehrerhaften Typ gab es schon längst vor den Nazis, und er hat auch das kurze Reich überlebt. Als Heinrich-Mann-Preisträger kennen sie diesen Typus doch - aus dem wilhelminischen Reich stammend. Oft gaunerhaft, besonders hypocritical! Also besonders schuldbewußt im so halb Unterbewußten. Sie hätten einmal miterleben müssen, wie der Erzbischof von New York auf die Aufführung des "Stellvertreters" eindrosch - Heuchelei erreicht gerne Übermass.
3-a] Ihr Artikel, auch vieles andere, auf das ich in letzter Zeit gestoßen bin (auch meine Arbeiten, psychoanlaytisch, sogar medizinisch, psychosomatisches, über das Werk und die Person Peter Handkes hat mir zu denken gegeben.[*2] Sie haben sicherlich recht, daß Schuldgefühle sich auch in Selbstgerechtigkeit, manchmal sogar auf selbstherrliche Weise, ausdrücken können, und wohl kaum nur bei Nachfahren der einst vom Hitler-Nationalismus Begeisterten. Eines der dahintersteckenden psychologischen Prinzipien heißt "Projective Identification" [ich kenne diese Formulierungen nur auf englisch]. Man überträgt, ja oktroyiert, stößt aus das unerwünscht häßliche im eigenen Unterbewußten auf einen andern; ganz unbewußt - diesen Moment des Ausschalten des Bewußtseins in dem besonderen Moment, oft der Wut - darauf kommt es natürlich an. [*3]
Ein zweiter Grund wäre schon ganz früh verletzter Gerechtigkeitssinn; in den meisten Fällen berechtigterweise sich verletzt fühlend, daß die Wunde dann auf was immer ihre Art spricht, injuries, Traumata, Künstler ihre Kunst ist in moderne Zeit wenigstens eine Art der Wiedergutmachung, und dabei sprüht dann viel anderes raus. Und sie fungieren als Surrogate in der Gesellschaft, sind notwendig.
Dem Schuldbewußtsein und seiner Demonstration dann aber vorzuwerfen, daß es nur schuldbewußt ist um dem Pein zu entgehen und sich wieder als heil und gesund und strahlend [sagen wir wie der einst immer strahlende große Schwimmer Siegfried Unseld, Gründer des Jüdischen Verlags unter der Imprimatur Suhrkamp der wohl einiges auf der Ostfront gesehen wenn nicht getan hat] und sich selbst als moralisch gut beurteilen zu können überfordert aber, glaube ich, das Gros des schuldigen menschlichen Gewissens. Nach Ihrer überspitzen Formulierung gäbe es auch keine Sühne! Damit wären Sie irgendwo angekommen wo ich glaube, dass Sie nicht ankommen woll(t)en. - Also, von einer Verzwicktheit in die andere, so scheint es. Aber ich verstehe schon warum Goebbels nicht nur seiner Gattin sondern allen sieben Sprossen die Rache, wenn auch nur ihres Gewissens, ersparte.
3-b] Mein so halb wissenschaftliches Sujet, Peter Handke, machte sich 2005 lustig - wo Verständnis eigentlich mehr geholfen hätte, angebrachter gewesen wäre - über seine eigene Anlage zu Selbstgerechtigkeit irgendwie machte sein Gewissen es so im Gewissenspiel dass er am Ende da immer unbefleckt weg kam!, LINK LOTHAR bevor er dann kürzlich besonders rechthaberisch auf Grass eindrosch, so wie sie, wie Louis Begley. "Eine Scham... etc" - Handke am Schreibtisch, oder jedenfalls mit einem Bleistift in der Hand, oder als Schreihals, ist auch so ein Thema. [*4]
Bei Handke drückte sich die Selbstgerechtigkeit für die Sprache, die Literatur ja schon ganz früh aus. Ob zu der Zeit [in den 60er Jahren], besondere - also die schon mit der Kindheit eingetrichterten - Schuldgefühle, die Anlage sich schuldig fühlen zu können - das benötigt ja das Gewissen -, dahintersteckten? Ich glaube es kaum; in der Zwischenzeit hat der Kerl auf seine Art schon privat sich Schuld angelastet. Man braucht ja nur die dostojewskihafte Zerknirschung Losers in "Der Chinese des Schmerzes" nachlesen. Wer wird schon auf die Dauer nicht mehr oder minder schuldig [ich selbst bin es auf ziemlich großväterliche Art geworden; der Widersacher, den ich auf zu leichte Schulter, nonchalant, genommen habe, zwar ein ziemlicher Dunkelmann, aber bei weitem kein Adolf Hitler wie bei seinem Großvater; und an jähen Impulsen zur Selbstgerechtigkeit fehlt es bei mir auch nicht].
Die Anlage zur Schuld ist etwas worauf die Priester ja es immer abgesehen haben; Staatsmänner aber irgendwie lernen sie schnellstens zu ignorieren, zu überspringen, angeblich der "National Interest" wegen! Daher die europäische Schuldkultur, nicht war? Und da es im menschlichen (in allen Affen-Wesen?) prä-ödipale Anlagen zu Schuldgefühlen gibt - wenn Sie mir bis hierhin folgen. Das prä-ödipale heißt bei Melanie Klein die Ambivalenz der "depressiven" Position. Sinnvoll auch vom darwinistischem Standpunkt. Also, wenn es auf Habermas' gut gemeinte, aus dem Historikerstreit stammende Idee, dass "die Deutschen" erst durch ihre Konfrontation und "Aufladung" mit der Auschwitz-Schuld ein Gewissen bekommen haben, in dem Punkt stimmen wir wohl überein. Die Habermassche Antwort in dem Streit war die "deutsche Schuld" mit der Einmaligkeit der Shoah synonym zu machen. Schon recht im gewissen Sinn: solch ein systematischen Ausrottungsversuch kann ich mir kaum aus einer anderen Kultur, Gesellschaft zu der Zeit stammend vorstellen. Aber dann besteht auch die Möglichkeit, dem schon gründlich auf den Grund zu gehen, es zu zerlegen; und dann die Schuld nicht auf das Gewissen eines ganzen Volkes abzuladen [inverted vanity as it were - eine Art Masochismus] sondern es zu portionieren ohne im geringsten zu relativieren: also - Ressentiment, immer die Schuld bei anderen [den Juden] finden, als an der eigenen kriegerischen Anlage, der Gehorsamskultur, dem Autoritären, dem Subaltern, dem Sauberkeitsfantatismus, ich denke an die Nicht-Bewältigung des verlorenen Ersten Weltkriegs. Von einer Nicht-Bewältigung zur nächsten, nicht wahr? Als ob Deutsche kein Gewissen gehabt hätten, es keinen Rechtstaat gegeben hätte; die Nazis wie jeder sich bewußt die Grenzen der Legalität überschreitender Staat - z. B. in den letzten Jahren die Busch Regierung hier - hat sich die Gesetze pervers zuschneidern lassen, von äußerst talentierten Deutschen, auf deutschen Rechtsschulen trainierten Juristen! Kein Wunder also, daß der "steinerne Gast" von so vielen aus dem Haus gewünscht wird. Momentan, hier in den USA, verabschiedet die Regierung die Federal Prosecutors, um sich und ihre ungeheueren politischen wie finanziellen Korruption diese und ihre, bis jetzt noch halbwegs funktionierenden Investigations [Libby Trial] von dem Leib zu halten!
Also was sollte man, kann man mit dieser riesigen Last an deutscher Schuld dann machen? Man könnte sie analog des Carbon Emission Quota an Länder wie Großbritannien oder Spanien austauschen, bei denen es, soweit ich weiss, nicht die geringsten Schuldgefühle bei irgendwelchen Schichten, ob Unter- oder Ober- oder intellektuellen Schichten ob der Missetaten und Folgen zur Zeit ihrer imperialen Abenteuer bestehen. Oder man könnte eine wahrhaftige Beurteilung der Schuld, der Schuldigkeit vornehmen, so en gros. [a] Das Volk im großen ganzen nur in dem Moment als es nicht gegen die dann perfektionierte Diktatur nach Reichstagsbrand und "Nacht der langen Messer" revoltierte.[b] Leute wie mein Großvater, Werner von Alvensleben, die es mit von Papen, und vielen anderen ermöglichten, dass Hitler Reichskanzler wird; ein historisches Fehlurteil das nicht nur das Wesen des Nazitums, das kriminelle vieler Nazis, aber die Art und Weise wie die Partei seit 1923 Macht eroberte, einfach übergangen, ignoriert hat.[c] die Inkompetenz, das Hamlethafte der Verschwörer; die einzige noch mögliche Opposition nach dem die sozialistische wie kommunistische Opposition kriminalisiert und ausgeschaltet war.[d] der Befehlsgehorsam der "einfachen" deutschen Soldaten, die irgendwie nie betrübt aussehen auf den vielen Bildern die es da gibt von den Sammelplätzen wo sie die Juden eingetrieben haben. Also, der sogenannte "einfache" Deutsche, der bei dieser Diskussion, typisch, er und sie, nie vorkommt, sollte nicht ungeschoren davonkommen...und so oder nicht weiter...
4] Es kommt noch diese Unterrubrik dazu: Dichter sind ja leider selten auch Denker. Aber nicht feige im Angriff dann. Allzu menschlich. Ja, auf die Nerven schon. Dazu berechtigt? Na ja, so bisschen "in glass house"... Aber auch immer schön wortgewaltig. Für andere ein Sprachrohr. "The conscience of the race"... Joyce's Portrait of the Artist certainly has made history, every damn scribbler feels entitled, and not a one of them [mit Ausnahme von Peter Handke, dem die Unterscheidungen des römischen Strafgesetzbuches ein wenig Klarheit verschafften!] has gone to law school! Und dann auch noch das Beispiel von Sartres "engagement." Zola "J'accuse." Schriftsteller als Richter, Verteidiger, Aburteiler, Beschuldiger in dem einem öffentlichen Bereich... weil eben die Gerichtsbarkeit, das Recht überhaupt, unter den verschiedenen europäischen Regierungen nicht besonders gut funktioniert, nicht wahr, und das alles spielt auf dem Hintergrund des menschlichen Anliegens nach Gerechtigkeit, dem Sinn nach Fairness, was man dann oft bei den öffentlichen Beschuldigern selbst vermißt.
Was mich bei Grass besonders störte war sein Angriff auf Ronald Reagans Bitburg-Besuch, als Reagan sich ziemlich weise äußerte über die Geflogenheiten der jungen Männer Horde für den Vater zu kämpfen. Ein Moment da die Anthropologie mit in die Historie hineinspielt.
5] Ich selbst (Auswanderer; Flüchtender aus dem mir verspukten Land des Jahres 1950) - war erstaunt bei meiner ersten Rückkehr 1956/57 [insofern ich mir überhaupt Gedanken aus dumpfen Gefühlen machen konnte die nicht nur aus Wut, Verwundung, Gerechtigkeitssinn, Familiengeschichten, Tragödien, Komödien motiviert waren], dass die Historie des Dritten Reiches zu dieser Zeit scheinbar nirgends "im Spiel" war.
Mitscherlichs Bücher und vieles andere kamen viel später; erst Mitte/Ende der 60er Jahre. Ich hatte zwar philosophische Kurse an meinem College besucht [der Vater von Lukacs und Olivier Foss, Auswanderer, deutsch-jüdische Philosophen, Kantianer]; die ersten kritischen Marxisten, mit denen ich dann Bekanntschaft schloß, waren die damals in Ost-Berlin leicht erhältlichen Gesamtwerke von Lukacs und Brecht. Die Wahrheiten der Schärfe der brechtchen Zynismusmesser haben sich mit der Zeit dann eingebrannt. Und noch jeden Abend ins Theater, hauptsächlich nach Ostberlin. Das vereinte sich nicht unbedingt mit den Dichtern der Moderne - aber so ziemlich allen - in die ich mich auch zur der Zeit einlas. Ich hatte selbst, in Plön 1948-50, als automatischer tagträumender Märchenmacher angefangen. Deswegen schätze ich den frühen Grass. Also verträumt, mich auf das schöne, damals namenlose Unterbewußte verlassend. Auf den ausbrütenden Traumvogel. Die Kerle in Plön waren, so habe ich sie in Erinnerung, was man so "gross in Ordnung" heißt, bis eben auf den Sohn eines Nazi-Generals mit dem ich - der Tortur die die Eltern, besonders der heißgeliebte Großvater von den Nazis erlitten hatten wegen - der Hitzkopf, der ich damals war, schnellstens in einen Kampf geriet der mich so echauffierte, das mein Herz aus Wut beinahe überschnappte und ich deswegen diesen Zweikampf zum Erstaunen der Kameraden selten verlor. Dabei lernte ich, die Hitzigkeit ein wenig zu kontrollieren um nicht zu früh einem Herzanfall zu erliegen. Ja, wie lange hat es von da an noch gedauert bis es allen Deutschen ans Herz ging was da verbrochen wurde! Ihnen?
Immerhin, welche Bevölkerung macht sich lange Gedanken über die ungeheuren Verbrechen, die in ihrem Namen verbrochen wurden? Solange man siegt, kaum. Hierzulande taucht mir nichts dir nichts ein Rambo auf, da "the American people like to feel good about themselves." Was immerhin auf ein kleines bißchen Gewissen durch Identifikation hindeutet, aber auch hier auf ein Gastausweisen. Sie haben die deutsche Nachkriegsschuldkultur scheinbar reichlich satt, trotzdem Sie ihr einen gewissen Respekt zollen. Die Verspätung all dessen, erklärlich vielleicht durch den Kalten Krieg, dadurch, daß die Deutschen nicht selbst ihre eigene "Entnazifizierung" durchführten, daß das Nürnberger Gericht keine Deutschen Richter hatte, der patriotische Widerstand gegen das Besetztsein, den Schock, der durch die Bombenangriffe versteiften Rücken, das nicht wissen können oder kaum wissen wollen, das nicht darüber sprechen wollen der zurückgekehrten Soldaten, das Überfordert-Sein... Ressentiment erklärbar... Jedenfalls, nichts ähnliches, keine Abrechnung wie nach dem ersten verlorenen Weltkrieg! Die Adenauer-Regierung hat, soweit ich weiß, nach dem Anfang des Kalten Krieges in 1947, bei der Aufräumung auch nicht geholfen. Was da alles Unterschlupf fand konnte man ja im ostdeutschen "Braunbuch" nachlesen.
Wie Sie sehen werden, habe ich noch mehr als den gewöhnlichen guten Grund froh zu sein, daß meine Eltern Widerständler waren, aber nicht ihre beide Brüder, die beide, einer nur sehr kurz, aus ganz verschiedenen Gründen der SS angehörten. Ich habe auch viel Zeit in dem Institut für Zeitgeschichte verbracht, hatte Vorschuß für ein Buch über einen der interessantesten Widerständler, dem Oberst Kurt Großkurt, Sohn eines Bremer Pastors. Diese Arbeit versickerte durch Eintauchen in den Widerstand als solchem, seiner Erfolgslosigkeit, der mangelnden Opferbereitschaft seiner Mitglieder... der liebe Großkurt hat einmal verzweifelt, so um den Einmarsch ins Sudetenland herum, einen Stein auf die Reichkanzlei geworfen! Auch mein Vater, wie Rommel: "Gab's denn da kein Hauptmann mit Seitenwaffe?" Ich nehme an, dass, wäre der 20. Juli geglückt, hätte der General Graf Schwerin meinen Vater durch die Linien zur britischen Division geschleust, und der Krieg wäre ungefähr im Herbst 1944 vorbei gewesen. Vielleicht würden die Deutschen eine andere Einstellung [ausser natürlich auch Dolchstoßlegende] zum eigentlich mir eher zu sehr hochstilisierten 20. Juli haben, an den ja auch Sie sich als eine einmal Hoffnung klammer(te)n. Ich selber habe den Tag in besonders guter Erinnerung als Tag nach der Abfahrt des plötzlich aus wahrlich blauem Sommer erschienenen, mir unwillkommen schlagenden Vaters! Also, kam die wirkliche verspätete Auseinandersetzung mit dem Nazitum dann im gewissen Sinn verschroben aus den Universitäten. Wahrlich nicht vom Volk her, wie es hier in der USA trotz allem doch noch möglich ist. [z.b "Born on the 4th of July."]
Etwas, was mit Ihrer Polemik zu tun hat, aber mir schon anhand der Beschäftigung mit der Kritik an Handkes Jugoslawien-Abenteuer [i.e. "Das Spiel zum Film über den Krieg."] in die Gedanken gekommen, ist folgendes: Der ganze Historikerstreit ist doch von Anfang an wörtlich falsch gestellt worden: Erst kam der Versuch, die deutsche Schuld [als ob es etwas so zu nennendes überhaupt gäbe] zu mildern, oder zu vermindern in dem es mit der Schuld anderer Völker, Regierungen verglichen wurde. Der Fehler liegt in Vergleichen, in "the mental act" of comparing of the incomparable." Schon das Wort "incomparable" ist falsch, trotzdem es in die richtigere Richtung weist. "Illness as Metapher" heißt der schöne Essay von Susan Sontag. Auf jedes einzigartige kommt es an! Wenn da nichts bei einem Vergleich herauskommt, soll man ihn lassen, ein drittes, eine Erleuchtung muß bei einer Metapher doch herauskommen. Aber was für eine Energie es erfordert das eigene Gehirn zu trainieren; solche "mental acts" zu vermeiden! Die Kluft, die in dem Schuldverständnis zwischen der "educated" und der "uneducated" Klassen besteht - dort wie hier nur Schriftsteller.
Von den Nazis habe ich als Kind ziemlich wenig als Kind mitbekommen. Im ersten Volkschuljahr 1944/5, Dorf Schönebeck, in der Nähe von Vegesack, erhielt ich eine Maulschelle von dem SS Lehrer weil ich, ewig störrisch, contrary, mit der falschen Hand/ falschen Arm/ den Hitlergruß abgab; wahrscheinlich eine Myschkin Anlage: nicht gehorsam. Der gleiche Lehrer war dann entzückt - Sie können es sich vorstellen - als bei uns - Widerständler mit Villa und Park - die ganzen amerikanischem OSS Leute in Bremen einkehrten und ihre Parties hielten. Also die wenigen Nazis, die ich je getroffen habe, sind's immer geblieben. Auch der eine viel liebere als der Vater SS Onkel! Ich habe einen Sohn eines wichtigen SS Manns kennengelernt, mutig, ein wenig depressiv veranlagt, der Knüppelkultur wegen, 68er schon, aber weder rechthaberisch noch laut; Professor.
Ich frage mich, was aus der von den Nazis aufgebauten, zusammengeschweißten Gemeinschaftskultur nach 1945 wurde? Also ich war kein Pimpf. Und ich erinnere mich erst als die Schar vertriebener Vetter und Kusinen aus dem Osten bei uns ankamen, mich bis Herbst 1944 nach der HJ gesehnt zu haben; erinnere mich auch keine in der dörfischen Volksschule gesehen zu haben.
6] Jetzt erstmal einiges um Ihnen meinen Blickwinkel zu erklären. Die Frage, ich stelle sie mir selbst: Wie bin ich zu politischem Bewußtsein, schon ganz früh im Leben gekommen?
Mit Nite hatte ich 1969 in München Bekanntschaft geschlossen als sie die Wohnung einer unserer Kusinen, der Vera [Verouchka] von Lehndorf mietete, einem Appartement auf hohem Stock mit schöner Aussicht auf die Zugspitze und so, auf dem südlichen Ufer der Isar, welches ich langzeitig in der Mitte der 60er Jahr benutze als ich in dem Institut Zeitgeschichte für Auskünfte suchte über den Widerständler Oberst Kurt Großkurt, [von der Abwehr, die Gruppe um Admiral Canaris: "Das ist das Ende" sagte dieser, erbleicht, als er von dem Überfall auf Polen erfuhr!], forschte. Meine eigenen Eltern, Alexandra von Alvensleben und Wilhelm Roloff, waren schon seit 1934 in den Widerstand verwickelt. Meine Mutter hatte es sich in den Kopf gesetzt ihren Vater, Werner von Alvensleben - den Schergen während der "Nacht der langen Messer" [Chicago, Deutschland] entkommen, aber dann zu Tode verurteilt, zu lebenslänglich in KZ Oranienburg verurteilt, beim Überleben zu helfen. Der - von jetzt an Opa A. - hatte einen höchst zweifelhaften Schutzengel, namens Graf von Helldorf, der ihm riet, das 'kommende Wochenende' in seiner Jagdhütte zu verbringen. Helldorf, Architekt des Reichtagsbrands und auch dieser Nacht der vollkommenen Endstation der Weimarer Republik, der Machtübernahme von Hitler & Co. Helldorf war eine schillernde Gestalt - der vielleicht aus Überzeugung als rabiater Deutsch-Nationalist vielleicht als schlauer Überlebenskünstler, vielleicht aus einer Mischung von beiden, am Widerstand des 20. Juli teilnahm [die Nachfahren de Familie des Grafen Helldorf antworten mir auf mein Ersuchen, diese Lücke in meinen Kenntnissen zu erhellen, niemals]. Helldorf selbst erscheint im dem Berliner Museum des Widerstandes als reiner Widerständler, vielleicht ist er aber auch eine der dunkelsten Figuren dieser Zeit. Er war ja schon bei den Nazis seit 1923 (Kapp Putsch), dann einer der großen in der SA, Polizeipräsident von Berlin und der Mark Brandenburg ab 1933, als solcher er seinen scheinbaren Freund [?] oder nur sippenhaft verwandten warnte; meinen später von mir bis zur Identifikation - ja ich weiss ziemlich genau wie so was intern, psychisch zugeht, Weihnachten 1940 zugegangen ist, ganz schnell! - riet doch das kommende Wochenende in seiner Jagdhütte zu verbringen, aber nicht den General Schleicher für den mein Großvater der Gobetween in den Verhandlungen mit H., war, oder Schleichers Adjutanten.
Außerdem hatte Opa A. Hitler tiefst beleidigt [er wird ja auch von H. persönlich zitiert in Hitlers Lügentirade nach diesem Wochenende - "ein gewisser Herr von A."] in dem er H. das Ende von Napoleon erklärte, [Opa A.s Frau, meine Großmutter Alexandra von Einsiedel, soll nach einem Mittagessen mit H. in ihrer Wohnung in Berlin gesagt haben, dass sie diesen Herren - H. - nicht wieder zu Tisch bei sich erwünsche.[Also, steht zwischen H. und mir nur 'One degree of Separation'.] Eine vergleichsweise mit dem Opa delikate Frau die so Sachen sagte wie "Manieren lernt man nicht, damit ist man geboren", die ich selbst als jemand erlebt habe als sie, ausgebombt in Berlin, nur noch Toast aß, nur sterben wollte, nach ihrer Tochter Lexi sich sehnte, und während der Angriffe weigerte in den Keller zu gehen, und jemand war, mit der man gut Patience spielen konnte]. Opa A. weigerte sich auch [das konnte man scheinbar], als Oberst aus dem Ersten Weltkrieg, je auf H. sich vereidigen zu lassen. Trotzdem gehört der liebe Opa A. zu den "Papen Leuten", die Hindenburg überzeugten, H. doch mal kurz regieren zu lassen, er würde sich dabei doch in mindestens sechs Monaten vollkommen lächerlich machen. Das aristokratische sich Herablassen hat dem Opa A. auch nicht das KZ austreiben können.
Es scheint mir so, als ob diese Gesellschaftsschicht, eine von vielen Eliten [sie sparen die sozialistische wie kommunistische vollkommen aus, so wie die religiös motivierten: die letztere von denen - Großkurt, Bremer Pastorensohn, nicht aus einer Offiziersfamilie stammend, und den Schweizer Seminaristen Maurice Bavaud -Tell 38- mich am meisten interessieren und überzeugen.] Da hatten die KPD und die Sozialisten doch die richtigeren Erfahrungen gemacht. Heini Lehndorf, wie so viele der Junker, war doch nur zum Widerstand gestoßen, als er Soldaten bei dem Bau der Wolfsschanze auf seinem Gut Trakehnen vorfand, 1942 oder 43 glaub ich. Nites Vater war auch eher spät zu dem Widerstand gestoßen. Es bestand zwar großes berechtigtes gegenseitiges Mißtrauen zwischen den Nazis und dem Junkertum und dem deutschen Offizierskorps, aber der Nationalismus hat doch schon seit dem Anfang des Ersten Weltkriegs alle Dünkel besiegt. Der Massenmord, dem Offizierkorps und den Soldaten wohl bekannt, wird nicht als Grund für die Verschwörung genannt, nicht wahr?
Meine Eltern haben dann am Ende des kurzen Reiches ihre verschiedenen Aufenthalte in Berliner Gestapo-Gefängnissen in wahnwitziger Weise überlebt, und sich sogar während des Hagels der Stalin-Orgel-Geschosse noch zusammen gefunden; wie - dies zu fragen fiel mir leider zu spät bei meinen Überlegungen ein. Jedenfalls war mein Vater schlau genug sich mit einer NSDAP Mitgliedschaft zu tarnen, was ihm, als Generaldirektor der Deutschen Nordseehochseefischerei [eine ihrer Filialen baute er in den 30er Jahren für Uniliver aus] und als Major [ohne Gehalt] dann schön Reiseerlaubnis nach Norwegen und der Türkei und der Schweiz auf Fischsuche, und anderem, für die Wehrmacht machte. Wäre der liebe Opa A. nicht ins KZ, alle vier derer er überlebt hat, wäre ich wohl spätestens kurz nach meiner Geburt mit nach England genommen worden, und hätte eine weit weniger kompliziertes Verhältnis zur deutschen Geschichte entwickelt. Am 19. Juli 1944 war der Vater zufälligerweise auf seinem kleinen Gut Fichtenhof [den Repräsentationen wegen] in der Nähe von Vegesack, Bremen. Ein Besuch, an den ich mich besonders gut erinnere, da er mich dann verhaute als ich, verbotenerweise, mit dem Gärtner Klinner, und dem von dem Pferd Lisa gezogenen Leiterwagen, nach Burg zum Kohlen holen abhaute und das kurz vor einem Luftangriff. Der Vater war auf dem Weg zu seinem Freund Graf Schwerin, der eine Division in der Nähe von Aachen befehligte, der ihn im Falle des Glückens des geplanten Attentats durch die Linie zu einer englischen Division schleusen wollte - einer von ich weiß nicht wie vielen Gobetweens? Mein Vater durch die Uniliver Verbindung, meine Mutter aus verwandtschaftlichen Gründen – beide hatten 1938 bei den Engländern (Lord Astor) vorgesprochen, um sie vor einem Kompromiß mit H. zu warnen. Als der Vater meine Mutter in Berlin am 21 Juli anrief – das gespräch wurde abgehört - sagte sie ihm, daß "alle im Krankenhaus" seien, und sie wurde ein paar Stunden nach dem Anruf verhaftet und in die Bendlerstraße gebracht.
Dort versuchte er nach dem ersten Verhör Selbstmord, da er befürchtete, beim zweiten Verhör Namen zu nennen, was ihm vielleicht das Leben hätte retten können, denn er landete in einem Krankenhaus geleitet von Dr. Albrecht Tietze, [Jad Vaschem], der zusammen mit seiner jungen Assistentin, Dr. Charlotte Pommer, und einer Schar einfacher Berliner, auch Polizisten, sich in den Kopf gesetzt hatte soviel wie möglich der von der Gestapo und SS da eingelieferten, und vielen Berliner Juden half, dass sie so lange wie möglich bleiben konnten.
Im Fall meines Vaters lange genug, so daß Freisler [und sein Volksgerichtshof] während einem Luftangriff [der berühmte Balken] getötet wurde. An der Bendlerstraße gab es einen Aufstand am Ende, als die Gefangenen schon zum Genickschuß in die ausgebombten Keller geführt wurden. Das Gefängnis wurde von einem Artillerietreffer halb zerstört; der Aufstand wurde von einem Sozialisten namens Lieber/ oder Leber so angeführt, die meisten SS-Leute hatten sich schon verkrümelt!
Als ich in den 60er Jahren auch die Gestapo Akten, die in Washington gelandet waren, einsehen konnte, schien es, dass die Gestapo meinem Vater nichts vorzuwerfen hatte außer dass er die Verschwörer mit reichlich Fisch versorgte [Meine Mutter hatte wohl recht als sie sagte, dass die Polizei immer viel weniger weiß als man - das paranoide Gewissen - sich vorstellt.] Sie selbst wurde von der Gestapo geschnappt; sie sollte Ausweise und Pistolen für einen flüchtenden 20. Juli-Teilnehmer besorgen. Aber als die Gestapo - ein sofortiges Geständnis erwartend - ihr eindeutige Beweise auf den Tisch legte, war sie um einiges schlauer und sagte: "Natürlich, ich arbeite doch für sie." "Seit wann?" "... um meinen Gatten zu retten." Das war so ungefähr am selben Tag als Prag von den Russen eingenommen wurde, was die Gestapo ["Und wo?" "Aus ihrem Prager Büro"] aber nicht zugab oder wahr haben wollte, daß es dieses Büro überhaupt nicht mehr gab, so daß ihr Bluff nicht geprüft werden konnte. "Und ihr Geheimwort?" - "Karo" sagte sie, glaube ich – das war die bekannteste Brotmarke zur damaligen Zeit in Berlin. Das Wort fiel ihr als erstes ein; sie war hungrig. Sie wurde zu sechs Jahren verurteilt – statt zu sofortigem Tode. Das Frauengefängnis entließ ihre Insassen kurz vor dem absoluten Ende. Kein Genickschuß dort.
All das wußte ich natürlich nicht als 7-, 8-jähriger im Herbst von 1944, als einer nach dem anderen der vielen bis dahin unbekannten adeligen Verwandten am Fichtenhof auftauchten - die vier Lehndorf-Gören, samt Mutter und Großeltern, Nita und Manfred, und einem 300 Pfund-Wesen, mit Baskenmütze, eingewickelt in einem beinahe schwarzen, dunkel-blauen filzigen "Greatcoat", einer Litauerin, die ihre Pferde an der Leine hatte [also jemand aus der Märchenwelt des frühen Günter Grass], die einfach "die Röppin" genannt wurde; Dönhoffs, vier von-Arnim-Söhne, und deren Mutter, und ich weiß nicht wer sonst.
Auch wußte ich das nicht im Frühling 1945 als der gleichaltrige Ditloff von Arnim und ich, von einer Böschung runter auf unsere ersten amerikanischen Truppen in ihren Jeeps und ein schweres Maschinengewehr auf dem Kübel, Windschutzscheibe herrunter spähten - wir lasen natürlich wie wild Karl Mai - und diese kleine Kolonne Spähtruppe mit unseren leichten Maschinen Gewehren einigen Handgranaten und Panzerfäusten - die wir von der Kompanie die auf dem Fichtenhof kurz einquartiert war, aus Arnheim marschiert, aber dann ihre Waffen weggeschmissen hatten, hauptsächlich in unserem karpfenreichen Teich, ergattert hatten - schwer blessierten bevor wir uns in den Maquis verkrümelten. Genau wie später jugendliche Vietcong oder die heutigen so genannten "insurgents" in der Provinz Anbar in Irak. Den Maquis gab es wirklich, und einen Moment habe ich sie wohl von der Möglichkeit eines solchen Vorgangs überzeugt!
Ein dichtes Kleineichenwald-Dickicht, in dem ein Jahr zuvor [und unsere Phantasie die gab es auch, und Ditloff, samt Sommersprossen war ein wirklicher Windhund zäh wie das beste Kruppstahl!] meinen ersten toten Menschen gesehen hatte, ein amerikanischer Fliegerpilot, der den Absturz seiner B-17 nicht überlebt hat; ein anderer, der noch seinen Fallschirm benutzten konnte, wurde von den Bauern, die irgendwie alle gleich hießen gefangen genommen.
Wie war es wohl zu meinem kriegerisch-nationalistischem Geisteszustand in diesem Alter gekommen? Schon mit vier Jahren zeichnete ich, äußerst grob, Luftangriffe; gleichzeitig habe ich begonnen, mich ins Lesen zurückzuziehen angefangen. Als die Eltern mich so um Weihnachten 1943 aus Istambul in Vornbach am Inn anriefen krächzte ich ihren schockierten Ohren das Marinelied "Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord"; bereits ab 1941 nach den ersten Bombenangriffen auf Bremen wurde ich, traumatisch für mich, auf Reisen mit meiner Polizisten Gouvernante genommen; Reisen nach Osten, Rückzug. Das Radio, die Zeitungen...und das mir kein Schwein etwas erklärte [es wohl nicht wagte] und ich mir meine Welt auf eigene Art auslegte. Auch der "böse Mann", der da hinter dem Wald, im Teufelsmoor, hauste, wo sich dann ein kleines Bremer Sammellager bildete.
Die vier Monate von Mai bis August 1945 - bis zum Wiederauftauchen der Eltern – wurde ich endlich "aufgeklärt"; eine Aufklärung, die dann vollkommen war als mich ein Ruck durchfuhr bei dem Lesen, 1946 oder 47 über die Folterungen meines Opa A. in Buchenwald und ich wusste, ich mußte aus diesem Wintermärchen-Mörderland weg.
Als mein Vater im August 1945 wieder auftauchte, war ich seltsamerweise stolz auf ihn als er "ja" antwortete auf meine Frage ob er im Gefängnis gesessen hatte.
Dies als Hintergrund zu meinen Kommentaren. Familiengeschichten - darauf kommt ja vieles an der Aufklärung an. Also wär' ich in Deutschland geblieben, wer weiß ob ich mit meinem damalig manchmal hitzigen Temperament nicht bei der RAF gelandet wäre? Wäre ich dem Schläger des Großvaters begegnet? Trotzdem es mir bei der Besichtigung der ersten großen Demonstration in Berlin [1969] sofort klar wurde, daß mit diesen Flaneuren [einige aus der Gruppe 47 mir bekannt] auf dem schönen Malecon, der der Kuhdamm dann war, keine Revolution zu machen sei, ohne Arbeiter, ohne Armee. Also war das doch eher eine verspätete Abrechnung mit der Generation der eigentlich nicht mehr vorhandenen Vätern? The two-edged sexual Revolution. Handke schreibt schön prägnant über Berlin zu der Zeit in der "Kindergeschichte" - auf der einen Seite die stöhnende Polizei, auf der anderen die Revoluzzer. Es waren die, die sich dann ach so leicht auf den "langen Marsch" in die Institutionen begeben haben. Das weltweite dieses Aufstands wird bei Ihnen auch ausgelassen. "The spirit of the Time..." Das nächste, ähnliche weltweite Phänomen war dann wohl das Auftauchen der Raubgier des Neoliberalismus in den 80er Jahren - der sich wohl noch nicht ausgespielt hat. "The Generation of Thieves" nenne ich diese, aus nächster Bekanntschaft.
Da ich ja immer interessiert blieb an dem mehr Mutter als Vaterland hab ich dann Michael Schneiders [1973] NEUROSIS AND CIVILIZATION übersetzt und als Senior- Lektor bei Continuum Books auch verlegt. Und überlege mir manchmal was aus diesem Kompendium der Neuen Deutschen Linken wenigstens bei mir, als Übersetzer hängen geblieben ist. Naja, einiges schon.
Was andere mir bekannte Widerstandskinder betrifft: Nite kennen Sie ja selbst. Als sie mich zum Münchner Flughafen fuhr (zu Martin Walser und Max Frisch am Bodensee), begegneten wir meinem strahlenden Boss, Siegfried Unseld, in Begleitung von Peter Handke, dessen Stücke ich zu dieser Zeit übersetzte. Handke, der schielende Kerl mit dem Röntgenblick, fragte mich später, ob die Nite einen leichten Knacks habe. Ich nickte nur. Und glaube, dass all diese Widerstandskinder, oder sehr viele, vielleicht alle deutschen Kinder dieser Zeit, einen Knacks, auf welche Art und aus was für Gründen auch immer.
Ich habe kaum Bekanntschaft mit anderen Widerstandskindern gemacht Von den vier Lehndorf Töchtern war die Verouchka [Vera], die einzige die ihrem Vater ähnlich sieht, schon schwer was man so "disturbed" nennt. Ob des Todes ihres Vaters wegen, oder der Kinderanstalt, in die sie Nazis steckten. Keine Idee. Die älteste, die Nona, hat dann eher ein Zuckerleben geführt, à la Hubert Fichtes "Die Palette" (was ich eigentlich sehr beneide). Die zwei jüngeren sind ganz normal und "uninteressant" soweit ich weiss. Die vier von Arnims stammten nicht aus einer Widerständler-Ecke. Der Vater könnte sogar einer der verruchten von Arnims des Zweiten Weltkriegs gewesen sein. Kam erst nach fünf Jahren aus russischer Gefangenschaft zurück. Die zwei ältesten, Dedo und Ditloff, sind Kaufmänner geworden, der dritte Bernd Bankier und hat die Tochter eines großen Hamburger Bankiers zu einem schöneren Namen geholfen. Der vierte, Gerd, wurde soviel ich weiß Inspekteur der Bundeswehr. Nites Bruder oder Cousin der den Sessler Verlag leitet (ich hab einmal ein Stück eines seiner Autoren übersetzt). Die Kinder der Schwestern meiner Mutter kommen nicht in Betracht, da die Schwestern politisch unengagiert blieben und sie kein Verhältnis zu den Großeltern hatten. Das Schicksal ihres Vaters motivierte diese Töchter nicht. Ich bin zwar in Verbindung mit der Gedenkstätte in Berlin, aber außer eine der Tietze Töchter (Stephanie, die einen amerikanischen CIA-Mann namens Reynolds geheiratet hat), welche die Erinnerung an ihren courgagierten Vater Albrecht wach hält, bin ich nicht mit irgendwelchen Widerstand-Nachkommen jemals in Verbindung gekommen: Nicht im deutschen Verlagswesen, nicht unter deutschen Autoren. Ja, warum die so still sind - bis auf mich, der auch lieber als "eminence gris" im Hintergrund mache? Es sind ihrer aber so wenige doch! Sie haben wohl recht, aber ob es damit zu tun hat, daß das blöde deutsche Volk sich nicht einmal wenigstens mit der Symbolik des Aktes dieser doch enttäuschende Gruppe identifizieren kann... es hinkt wahrscheinlich immer noch an Mut aller Art.
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Now, I am going to switch, briefly, into American English: What I am missing is the equivalent - perhaps it is a question of ignorance on my part - of the "The god that failed" type testimony by these ex-believers. It is said that subsequent to WW II, the Germans were "ernüchtert", but didn't that already occur during the period called the "Neue Sachlichkeit?" I must say, I never met an ex-believer, among the family members nearly all of whom were anti-Nazi there was one fairly pathetic Nazi uncle, full of ressentiment which derived from his having been the neglected second son, whereas the first born, my father, had been showered with his parent's love and admiration. In other respects, this uncle Thorvald was far sweeter and easier than his older anti-Nazi Widerstands brother, but stuck to his Nazi convictions to his end in the early nineties, a Märzhase who joined, so he said, because that was the only way he could go on riding when the SS co-opted his club into the Reiter SS, and did so despite the pleadings of his Jewish relatives, even went to far as to suppress his own part Jewish heritage! Just to sit on a horse, no kingdom, just a better view! The only truly starry-eyed political believer I ever encountered was a young Komsomol managing editor of a book publishing firm in Plodview, Bulgaria. A lovely fellow. Oh how upset he was when I mentioned that books are "verramscht" in the US, I didn't even get a chance to explain that the sacred paper, whose scarcity was allotted under the five year plan, was recycled! Good indeed. But that rather points to idealism and its perversion by political powers during the or whenever 20th century; you can find young Republicans and Neo-Cons like that in this country. Since those "good" idealists remained "good", unless they committed crimes, there is really no reason why their progeny ought to be disposed towards anything but a more idealistic behaviour and disposition than the general run of people??? I myself am still quite idealistic, and, having been psychoanalyzed, have given some thought to why I am inevitably so. No doubt it is because of my fairly heroic mother, who was idealized and not only by me; who, however, was also a practical and clever idealist; otherwise she would not have survived the Gestapo; and I myself, with all my excesses and excessive sometimes optimism, might not have given consideration to my aversion to tropical environments and inability to cope with amöbas and might be buried on an airstrip in Bolivia thirty some years ago!
Also, für mich sind die Bücher von Kempowski wichtiger als alles Pauschales – so etwas wie "Haben Sie Hitler gesehen?", dass ich übersetzt habe.
Yours very truly,
Michael Roloff
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*-1] Ich habe Grass' Zwiebelschälung noch nicht gelesen, [thus "I am withholding judgment" until whenever] und es scheint, als ob Sie es zur Zeit Ihrer Polemik auch noch nicht gelesen hatten. Die interessantesten Rezensionen - von Raddatz [Die Zeit] und Neal Acheson [London Review of Books] schienen anzudeuten, dass die Sache bei dem Raconteur verzwickt ist; es wurmt ihn, und zwar schon lange; worauf, dass ihn etwas wurmt, er einen ja selbst schon vorher aufmerksam gemacht hatte. Aber was soll der arme Kerl denn tun? "Ich war zwar 45 Tage lang Angehöriger der Waffen SS, finde aber trotzdem das X einer der allergrößten Kriegsverbrecher überhaupt ist... etc." Weil er so lange gewartet hat, um so peinlicher ist es dann jetzt. Eine narzisstische Schwäche sicherlich, dass er das nicht vor langer Zeit richtig gestellt hat, Feigheit, wie scheinbar damals beim Russenangriff auf seine Division. "Hänschen klein" Otherdirected.
*2] Handke hat deutschen Vater und Stiefvater, slowenische/österreichische Mutter , aber scheint eher tief beeinflußt von dem Partisanentum der zwei slowenischen Onkel, dem slowenischen, jugoslawienliebenden Großvater; die Mutter, wenn man da auf "Wunschloses Unglück" genauer hinsieht, scheint das Kommen des Führers ziemlich enthusiastisch gefeiert zu haben. Ja, in was für Unglück der ein ignoranter Enthusiasmus einen treiben kann, nicht wahr?
*3] Es ist, finde ich - besonders auf die Dauer - irgendwie ungewöhnlich, daß nach all dieser Zeit, immerhin 100 Jahre, nach der Eröffnung des immer größer werdenden Reich des Unterbewußten - "das Unbewußte"/ System Unconscious/U.C.- das dieses nicht als mindestens eine Möglichkeit bei allem Denken, mindestens als Skepsis, mitgedacht, mitgeführt wird.
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